Panel-Vorträge

Panel A – Anna Gohmert

„Poetry is the way we help give name to the nameless so it can be thought.”  

Fanti Baum

The white fathers told us, I think therefore I am; and the black mothers in each of us – the poet – whispers in our dreams, I feel therefore I can be free. Poetry coins the language to express and charter this revolutionary awareness and demand, the implementation of that freedom.

Audre Lorde

Audre Lorde formuliert in ihrem Gedicht Poetry is not a Luxury einen radikalen Begriff von Freiheit, wenn sie schreibt: I feel therefore I can be free. Gegen die Vorstellung eines Denkens der Freiheit, das sich im I think therefore I am der europäischen Philosophie begründet, setzt sie ein Verständnis von Freiheit, dass sich aus dem Gefühl wie aus der Poesie heraus denkt und von dort Kraft zur Veränderung schöpft – als Schwarzes feministisches Konternarrativ zur europäischen Aufklärung. Das Fühlen ist immer schon Politik. Mehr noch: Audre Lorde begreift Poesie – hier vielleicht verstanden in ihrem weitesten Sinne als künstlerische Praxis – als „vital necessity of our existence“ und als Voraussetzung für jedes Denken: „Poetry is the way we help give name to the nameless so it can be thought.” 

Ausgehend von jenem aus der Poesie, aus dem Gefühl geschöpften so it can be thought unternimmt mein Vortrag ein Nachdenken über das epistemische Verhältnis von Kunst und Theorie, über die Zusammenhänge von Poesie, Gefühl und Denken und begibt sich auf eine Suche nach einem „Denken, das seiner Form nach ästhetisch“ (Maria Muhle, Ästhetik neben sich) – einem Denken des Gefühls. Um herauszukristallisieren, was das sein könnte, diskutiert mein Vortrag Jean-Luc Nancys Nachdenken über Berührung als ein Wissen, das den Künsten nah ist, um in einem zweiten Schritt die Konstellationen zu wenden, und mit der Konzeption der Haptikalität von Stefano Harney und Fred Moten in den Blick zu nehmen, dass nichts bleibt als Philosophinnen des Gefühls zu werden. 

„Sich an C19H28O2 anschließen“

Onto-epistemologie und ästhetische Praxis in Paul B. Preciados Testo Junkie 

Georg Dickmann

Denken hat die Tendenz durch reflexive Schleifen die Objekte im Subjekt-Objekt-Verhältnis zu Gunsten eines auktorialen Subjekts auszulöschen. Dieser subjektzentrierten Reduktion haben sich in den letzten Jahren vor allem Strömungen des Neuen Materialismus entgegengestellt, in dem sie, sowohl die Erkenntnistheorie nach Kant, als auch die Hypostasierung der Sprache der Diskursanalyse spekulativ zu verabschieden versuchten. Wie sich eine spekulative Kritik als ästhetische Praxis vollziehen kann, zeigt, so die Ausgangsthese des Vortrags, die Theoriefiktion Testo Junkie. Sex, Drogen, Biopolitik in der Ära der Pharmapornografie (2016) von Paul B. Preciado. In einem theoretisch-ästhetischen Grenzgang unternimmt der spanische Philosoph und Queer-Theoretiker den Versuch, das epistemische Verhältnis von Philosophie, Ästhetik und Politik neu auszuloten. Sein Intoxikationsprotokoll des über ein Jahr andauernden Testosteron-Selbstversuchs, sowie die Sozialphilosophie und queere Diskursgeschichte des Hormons, ist, so die These des Vortrags, eine experimentelle, subjektkritische und konstellative Schreibweise, die nicht nur ein neues Text-Genre kreiert, sondern auch im Sinne des Karen Barad‘schen Theorems der Onto-epistemologie, Weltzusammenhänge nicht als die Gesamtheit interagierender und durch das Subjekt vermittelter Entitäten begreift, sondern als ein prozessartiges, lust- und machtvolles Materialisierungsgeschehen, in dem die Relata den Relationen nicht vorausgehen.

In der gegenseitigen Indienstnahme von Karen Barad und Paul B. Preciado, versucht der Vortrag nachzuspüren, dass weder der Text noch die chemischen Artefakte, die den Körper durchfluten, einfach gegeben sind oder nebeneinanderstehen. Vielmehr werden diese in der ästhetischen Praxis zu einem geteilten und metafiktionalen Gefüge, in dem nicht die Erfahrung von Intoxikation vorrangig ist, die dann nachträglich protokolliert wird, sondern diese sich erst in einem situierten (Haraway) und intraaktiven (Barad) Schreiben formiert. Im Theorieexperiment Preciados ist die ästhetische Praxis somit nicht nur Gegenstand der Untersuchung, sondern hinterfragt die Theorie selbst. Davon ausgehend sind die Leitfragen des Vortrags: wie verschränken sich bei Preciado Theorie und Kunst? Was sind die Bedingungen der Möglichkeit eines situierten und verkörperten Wissens und wie stehen diese in Bezug zu seiner Schreibpraxis? 

Literally Speaking. Literatur als indirekter Weg zur Wahrheit 

Dr. Nicola Tams 

“Manche von euch halten es wahrscheinlich für eine schlimme Sache, dass wir uns in Vereinen, Stadtvierteln und Gemeinden, unter Studentinnen und sogar als Schülerinnen in farbigen Schulen je nach der Tönung unserer Haut – je heller, desto besser – zusammenschließen. Aber wie sonst sollen wir uns einen Rest von Würde bewahren?”, sagt die Protagonistin in Toni Morrisons Roman “Gott, hilf dem Kind.” 

Wer würde dieser Schilderung einer Protagonistin einen wahrheitlichen Gehalt absprechen? In meinem Beitrag zur Tagung möchte ich die Literatur als Möglichkeit verstehen, einen indirekten Zugang zum Wissen zu bieten. Hierbei können Kierkegaards Einordnungen der Philosophie in direktere und indirektere Reflexionsformen herangezogen werden. In unterschiedlichen literarischen Texten werden nicht nur Evidenzeffekte hervorgerufen, sondern sind sie meines Erachtens auch Ausdruck von politischen Themen und haben damit einen wahren Kern. Das Verbot von literarischen Büchern je nach politischem Kontext ist ein weiteres Argument dafür. 

“Because I don’t stick to the side of conceptual reasoning. (…) In my text everything remains stubbornly concrete,” schreibt Hélène Cixous über ihr Schreiben. Das Konkrete der Literatur, ist es keine Weise des Denkens? “Meine Figuren treten mir nicht entgegen, um mich zu rühren, sondern sie sind mein Material, anhand dessen ich schreibend nachdenke,” schreibt die Autorin literarischer Texte Annette Pehnt und Dagmar Leupold sieht sogar die Reflexion als Ausgangspunkt poetischer Praxis: “Nichts, was man weiß, drängt zu poetischem Ausdruck, sondern was man wissen möchte.” Dem möchte ich nachgehen, der Frage, auf welche Weise die ästhetische Praxis der Literatur nachdenkt und dafür halten, dass sie mehr ist als eine der “Sinnmelodien” (Gadamer) der Philosophie.

Panelmoderation

Anna Gohmert

Anna GohmertAnna Gohmert ist 1983 in Stuttgart geboren. Anstatt ein Volontariat am Theater zu absolvieren, um Maskenbild zu studieren, absolvierte sie eine Friseurausbildung. Diese Begegnungen mit Menschen verschiedenster Milieus eröffneten ihr einen Einblick in ein Panorama von Sorgen, Eitelkeiten, Träumen und unterschiedlicher Idealvorstellungen. Dieses Wissen bezüglich all dieser verschiedenen Lebensrealitäten hat einen maßgeblichen Einfluss auf ihre künstlerische Praxis. Erinnerung, Sprachlosigkeit & Überlebensstrategien verhandelt sie mittels den Medien Text, Video, Fotografie & Performance – meist in Kombination. Die Arbeiten folgen einer metonymischen Logik und sind an kein fixes Medium gebunden. Ihre Arbeiten sind so an verschiedenen Plätzen beheimatet und zugänglich.

Panel B – Julia Peters 

Unsicherheit aushalten

Anne Gräfe

Ende September 2016 um 20 Uhr abends in Berlin: Ein in Nebelschwaden gefüllter Museumsraum, der vormals als Bahnhof funktionierte, und unzählige, durch den Nebel nicht sämtlich sichtbare, Zuschauer_innen aus dem Umfeld der Berliner Kunstszene. Der freie Eintritt ebenso wie die Masse an Menschen gibt dem Ort zurück, was ihm lange eigen war: Öffentlichkeit. Zugleich lies diese mit Nebel erfüllte Bahnhofs-Museumshalle bereits die temporale Dimension der kommenden vier Stunden erahnen. Die Ungewissheit darüber was man sieht, führte zu einer weiteren Ungewissheit die Zeit betreffend: Man wird nicht wissen können was wann passiert, passieren wird und ob überhaupt etwas irgendwann irgendwo geschieht und man wird bald nicht mehr wissen, wieviel Zeit vergangen ist und noch vergehen wird. Zugleich erfüllten Spannung, Erwartungshaltung, vielleicht sogar Spektakelerwartungshaltung den Raum – immerhin bekam die hier aufführende Künstlerin den Preis der Nationalgalerie 2015 (und 2017 den Goldenen Löwen von Venedig) verliehen, immerhin heißt die Arbeit „Angst II“. Kunst verunsichert. Im Augenblick der Unsicherheit wird deutlich, dass Vernunft und Rationalität zwar die Welt beschreiben, aber diese nie gänzlich zu erfassen imstande sind. Dabei ist Kunst nie schon selbst unmittelbar Wissen oder Politik, sondern versetzt uns in eine reflexive Distanz zu unseren Wissensbeständen und lässt uns einen anderen, unsicheren aber nicht immer unvernünftigen, Zugang zur Welt erfahren. Und gerade weil die Gegenstände der Kunst nicht einfach in vernünftiger und rationaler Beschreibung aufgehen, müssen wir uns auf eine andere Wahrnehmungsweise einlassen, die nicht als neuer Imperativ daherkommt, sondern als Erweiterung und Entgrenzung. In der Erfahrung der Kunst erscheint uns die Welt. Anhand der künstlerischen Arbeiten Imhofs der letzten Jahre möchte der Vortrag aufzeigen, dass die ästhetische Erfahrung, mit in und durch die Kunst, Philosophie und Politik konsequent be- und durchspielt. Kunst ist dabei nie von sich aus kritisch und aufklärerisch, also politisch. Vielmehr sind die Konstellationen, Form und Material, aber auch die möglichen Begegnungen und Situationen, Anlässe, um den Unsicherheiten zu begegnen und nachzugehen.

Zur Konstellation von Philosophie, Sprache und Literatur: Derridas Auseinandersetzung mit Hegel in Glas 

Simon Waskow

In meinem Vortrag möchte ich die Frage der sprachlichen Darstellung des Wissens und Den- kens der Philosophie anhand von Derridas Auseinandersetzung mit Hegel in Glas umreißen. Die Leitfrage der Tagung – nach der Re-Evaluation der Wissensansprüche der Philosophie und ihres Verhältnisses zu den Bereichen des Ästhetischen, Sozialen und Politischen – hat Derrida in seinem Buch Glas gestellt: Was bleibt – für uns, heute – vom absoluten Wissen? Noch stärker als in seinen anderen Texten, arbeitet Derrida hier auf der Formebene: Der gesamte Text glie- dert sich in zwei Spalten, von denen die linke Hegel und die rechte Jean Genet gewidmet ist. Zusätzlich werden beide Spalten von Textfenstern und Einschüben durchsetzt. Derrida konstru- iert hier also eine Konstellation zweier Autoren, die paradigmatisch für „Philosophie“ und Li- teratur“ stehen. Durch die Gliederung in Spalten ist der Text nicht linear lesbar, sondern eröff- net vielmehr eine unendliche Möglichkeit verschiedener gedanklicher Verbindungen. Ein Ziel Derridas ist es dabei, die Texte der beiden Autoren, die er ausführlich zitiert, nur durch ihre Nebeneinanderstellung neu lesbar zu machen. 

Eine besondere Rolle spielt dabei – wie auch in Derridas anderen Auseinandersetzungen mit Hegel – die Sprache der Philosophie. Für Hegel war entscheidend, dass das Denken sich nur entwickeln kann, indem es sich sprachlich artikuliert und darstellt. Zugleich sieht Hegel klar, dass die Kontingenz und Bildhaftigkeit der Sprache zwar produktiv als Katalysator des Den- kens, genauso aber als Hemmung wirken können. In seiner sprachlichen Artikulation ist das Denken einem Medium ausgesetzt, das es letztlich nicht kontrollieren und restlos durchsichtig machen kann. 

Derrida sieht Hegel darin durchaus als Vorbild für sein eigenes Denken der Differenz. Er selbst radikalisiert nun diesen Gedanken und konstruiert Glas als Logik des Zwischenraums, als Ope- ration der uneingeschränkten Sinn-Produktion, bei der alle Sinnressourcen der Sprache freige- setzt werden. Derrida führt damit nicht die Philosophie in die Beliebigkeit, sondern er unter- streicht die Rolle und die Eigendynamik derjenigen Momente, denen die Philosophie für ge- wöhnlich einen nachgeordneten Stellenwert zuschreibt, nämlich der Sinnbewegung auf der sprachlichen Mikroebene und der Einbettung in soziale Strukturen wie Gesellschaft und Fami- lie. 

Panelmoderation

Julia Peters is Associate Professor in philosophy at the University of Tübingen. Her research is concerned with systematic questions in the philosophy of Kant and Post-Kantian German idealist philosophy, in moral philosophy, moral psychology, anthropology and aesthetics. She just finished a book manuscript on Kant’s conception of moral character entitled A Kantian Theory of Moral Character (this project constitutes my German ‘Habilitation’). In addition, she has recently been working on a series of papers on Hegel’s philosophy of mind, as well as on a research project on classical German anthropology.

Panel C – Moriz Stangl

The constellations of that which showsHow go gain/guess knowledge from the aesthetic.

Aloisia Moser

Dieter Mersch, a German philosopher and chair at the department of theory at the Zürcher Hochschule der Künste asks in his book Epistemologies of Aesthetics(Mersch 2015) whether there exists a different knowledge, “another kind of thought” that cannot be explained by philosophical discourse. As it turns out he finds it in Wittgenstein: “a kind of knowledge that inhabits a different continent and follows another ‘logic’ than that of language and its predicates.” (Ibid. 115) Mersch suggests that it is Wittgenstein’s distinction between saying and showing, as well as Benjamin’s method of literary montage, which also “shows” (Benjamin 2002) where he finds this different kind of (aesthetic) thinking. What is this showing then? Mersch claims it is the true ‘labor of aesthetics’ a particular doctrine or way of thinking which he calls “Zer/zeigung”—’showing asunder’ which includes modalities of reflexivity and self-reflexivity. The relations between the elements of that which shows are not logical but are thought in terms of constellations. Mersch subsequently builds a theory of showing and its entanglements that is resistant to translation into concepts or into the language of propositions and comes up with a theory of showing games that allow us to make steps towards new epistemologies of aesthetics. Within the polyvalences of showing and showing oneself, we do not find a relationship between two different paths, but a transformation of the epistemai, of knowledge itself. 

In my paper I introduce and elucidate Mersch’s notion of “Zer-zeigung” and make it pertinent for my own research project on guessing. In my habilitation I elaborate that guessing is part of thinking, that the constellative sense relations of the aesthetics do yield knowledge.

Über die ästhetische Form der Philosophie bei Wittgenstein 

Dr. Jochen Schuff 

Dass Wittgensteins Philosophie mit Problemen der Form ringt, ist auf den ersten Blick zu erkennen. Es genügt dazu, an das jeweils radikale Erscheinungsbild der Hauptwerke zu denken: an die nüch- terne, scheinbar streng logisch geordnete Struktur der Logisch-philosophischen Abhandlung ebenso wie an die aphoristische, fragmentarische, ausfransende Organisation der Philosophischen Untersu- chungen. Zusätzlich finden sich an verschiedenen Stellen seiner Schriften eine ganze Reihe von Be- merkungen Wittgensteins, die Probleme der richtigen Form philosophischen Denkens und Schrei- bens nicht nur thematisieren, sondern auch in explizite Nähe zu Prozessen der Kunstproduktion wie zu ihrer Konzeptualisierung in der Ästhetik bringen. Stanley Cavell hat dieses Formbewusstsein Wittgensteins immer wieder mit den Kunstavantgarden des 20. Jahrhunderts in Verbindung ge- bracht, und Wittgensteins Bemerkungen als einen der entscheidenden Prototypen modernistischer Philosophie gelesen. Diese – wie ich finde, vollkommen zutreffende – Lesart bringt Wittgensteins Arbeiten trotz aller Unterschiede mit den Methoden konstellativen Denkens, wie sie Adorno ent- wirft und etabliert, in enge Verbindung. Nicht zuletzt sind beide Philosophen auch biographisch im Modernismus des 20. Jahrhunderts geradezu verwurzelt, und beide begreifen ihre theoretischen An- strengungen jeweils als Ausloten der Grenzen des Sagbaren. In meiner Präsentation stelle ich dar, dass und wie man Wittgensteins Philosophie missversteht, wenn man dabei die Form ihrer Ausar- beitung nicht gleichberechtigt ernst nimmt. Dabei dient mir Adornos Schreiben als Parallele und Kontrast. Von der offensichtlichen Nähe dieser Formverhandlungen zu den Medienauslotungen mo- dernistischer Künste möchte ich aber weiter in die Gegenwart fragen: Welche Relevanz haben die Formbestimmungen Wittgensteins für das Denken (und die Künste) der Gegenwart? Steckt sein Denken (allzu) tief in den Bedingungen des 20. Jahrhunderts, die es zweifelsohne verkörpert, und ist daher heute nur bedingt aktuell? Oder ist es im Gegenteil für ein angemessenes Verständnis der Gegenwart in Künsten und Theorie unabdingbar, die Verstrickung von Form und Gehalt, die seine philosophischen Methode ausmacht, zu erfassen? Ich optiere für die zweite Alternative, indem ich in meiner Präsentation einerseits die Aktualität Wittgensteins für die Philosophie der Kunst skizzie- re und andererseits die Bedeutung der ästhetischen Aspekte seines Denkens für die Disziplin der Philosophie als solche betone. 

Panelmoderation

Moriz Stangl (*1993) studierte Bildende Kunst bei Maria Mosler und Rainer Ganahl, und Philosophie an der Universität Tübingen, zurzeit „Körper, Theorie und Poetik des Performativen“ an der AdBK Stuttgart. In seiner theoretischen Arbeit beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Bildlichkeit und Formalisierung bei Walter Benjamin, Alain Badiou und Gilles Deleuze. Moriz Stangl hat u.a. im Württembergischen Kunstverein Stuttgart und im Westwerk Hamburg ausgestellt. Er ist freiberuflich als Texter und Dramaturg tätig.

Panel D – Christoph Sökler

Epistemologien der Komplexität 

Arantzazu Saratxaga Arregi

Netzwerk, Komplexität, Selbstorganisation, Assemblage etc. sind alles Begriffe der geisteswissenschaftlichen Konstellation des letzten Jahrhunderts. Mit dem Paradigmenwechsel der Naturwissenschaften zu den Wissenschaften der Komplexität (Ilya Prigogine und Isabelle Stengers), insbesondere im Rahmen der irreversiblen Physik (Henri Poincaré) und nicht-linearer Gleichungen chemischer Reaktionen (Alan Turing) samt der Einführung der Kommunikationstechnologien in die sozialen Systeme, haben sich die Geisteswissenschaften der Herausforderung gestellt, sich ein neues Wissen über die Komplexität anzueignen. Die Informationstechnologien und die von der Wissenschaft immer deutlicher nachgewiesene Komplexität von Naturphänomenen haben im Gefolge zu einer kompletten Wandlung der Beziehung Mensch/Umwelt geführt, die einige Theoretiker schon als die vierte Kränkung des menschlichen Selbstwertgefühls nach Kopernikus, Darwin und Freud eingestuft haben (Norbert Wiener, George Klaus, Otto Walter Haseloff). Die Philosophien der Komplexität entstammen diesem Paradigmenwechsel zum prozessualen und relationalen Denken (Whitehead). In diesem Kontext ist die operative Erkenntnistheorie ein Versuch, die Komplexität von interaktiven, nicht-linearen Dynamiken sowie von rekursiven und zirkulären Prozessen im Denken wahrzunehmen. Diese Theorie wurde um 1970 im Rahmen der Kybernetik II. Ordnung, der Disziplin für „Observing Systems“ entwickelt. Das Ziel dieses Vortrags besteht in der Darlegung von Prinzipien und Problemen der Epistemologien der Komplexität, ausgehend von konstruktivistischen Theorien der Kybernetik II. Ordnung bis zum ihr angeschlossenen ökologischen (Bateson) und relationalen Denken (Stengers). 

Das Zeug zur Erkenntnis – Forschung durch Spekulatives Design 

Tom Bieling 

Wie wohl kaum eine andere Forschungs- und Wissensdisziplin legen das vergleichsweise junge Feld des „Spekulativen Designs“ (Dunne/Raby 2008, 2014) und die sich darum rankenden Diskurse die Tendenz – vielleicht auch die Erfordernis – offen, neue Narrative in Wissenschaft, den Künsten, und den irgendwo dazwischen positionierten, von Hause aus eher anwendungsorientierten, Designdisziplinen zu (er-) finden. (Bieling 2020) 

Sich im, zumal spekulativen und folglich nicht immer unweigerlich auch evidenzbasierten Bereich der gestalterischen Projektion den Forschungsformaten der Naturwissenschaften zu unterordnen, ist nicht immer möglich und nicht immer sinnvoll. Ähnliches gilt zum Teil für die Orientierung an den Geisteswissenschaften. Von außen wie von innen betrachtet, erscheint der Forschungsbegriff im Gestaltungskontext streckenweise diffus. Es stellt sich die Frage, welche originären Methoden der Wissensgenerierung sich in den Gestaltungsdisziplinen – und wichtiger noch: aus ihnen heraus – entwickeln und anwenden lassen. Was nicht unbedingt dadurch vereinfacht wird, dass wir hier in Feldern agieren, in denen Subjektives mit Objektivem, Implizites mit Explizitem, und eben auch Spekulatives mit faktenbasiertem, „wissenschaftlich abgesichertem“ Wissen verschmolzen wird. 

Es zeichnet sich hier womöglich eine neue, andere, besondere, hybride Form des Wissens ab, (Cross 2008) die sich vor allem aus Erfahrung im Entwurf („Gestaltende“) und im Gebrauch („Rezipient*innen“) sowie dem Dialog aus Beidem speist, und überdies von einer Vielfalt an Arbeitsprozessen, Beobachtungsformen, Darstellungs-, Deutungs-, Erscheinungs- und Vermittlungsweisen, medialen Zugängen und artefaktischen Manifestierungen geprägt ist. Dies umschließt die Interaktion von Körper, Geist und materieller Welt, die immer auch durch Sprache, Bild und den Prozess des Entstehens vermittelt wird. Denken und Wissen ist in dieser Gemengelage selten autonom, sondern eng an das Materielle bzw. Virtuelle gekoppelt. Mehr noch: es geht aus diesem hervor. Das Gestaltete fungiert somit unweigerlich als Quelle der Vorstellungskraft und (schöpferischen) Erkenntnis. Und: Das Medium der (Werk- bzw. werkzeuglichen) Arbeit ist zugleich auch Medium des Denkens – so wie der Stoff für den/die Schneider*in. 

Verstehen wir Spekulatives Design als eine im Artefakt verkörperte und aus ihm heraus vermittelte Form des Diskurses, so ergibt sich daraus eine Gestaltungskategorie, die sich nach anderen Maßstäben bemisst, als etwa denen von „Form“ und „Funktion“. Eine Art Diskurs- durch-Design, deren Wert sich gerade aus der Konfrontation mit anderen Praxisfeldern, Wissensdisziplinen und Denkschulen speist. 

Ausgangspunkt des Input-Vortrags ist die Frage nach den Erkenntnispotentialen spekulativen Forschens und die Annahme, dass es nicht nur eine richtige Form von Wissenschaft gibt, sondern viele mögliche Formen Wissen zu schaffen. Dass die Entwurfs- und Gestaltungsdisziplinen (aus unterschiedlichen Gründen) zunehmend dazu angehalten sind, wissenschaftlich forschend zu agieren, führt durchaus zu (inneren wie äußeren) Konflikten. Etwa in Bezug darauf, nach welchen Kriterien Forschung zu erfolgen hat, sowie einer gewissen Grundskepsis gegenüber einer allzu starken, restriktiven Formalisierung von Forschungsprozessen, -formaten und -ergebnissen. 

Panelmoderation

Christoph Sökler studierte Gesang, Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie in Karlsruhe, Leipzig, Berlin und London. Seit 2014 forscht und lehrt er als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Ästhetik und Kunstvermittlung der ABK Stuttgart. Veröffentlichungen u.a. bei RISS und bei Filozofski Vestnik / Ljubljana. Für Metzler verfasste er einen Artikel zur Musiktheatervermittlung für das in Kürze erscheinende “Praxishandbuch Musiktheater für junges Publikum”. Für Turia und Kant hat er Regnaults “Lacan’sche Ästhetik” aus dem Franz ösischen und Alenka  Zupančičs  “What is Sex” aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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